Es ist nicht alles Gold, was glänzt

Für Susi

Namen, Personen und Handlung sind natürlich frei erfunden !

Die Sonne brannte auf meine nackten Schultern, und ich sollte mich schleunigst umdrehen, um keinen Sonnenbrand zu bekommen. Aber ich träumte gerade meinen Lieblingstraum: in einer Villa romantisch bei Kerzenschein spielt mir mein Prinz zärtliche Melodien auf seiner Gitarre. Jetzt beugt er sich zu mir, seine braunen Augen strahlen mich an und dann ...

"He !" entsetzt fuhr ich hoch. Vor mir stand meine beste Freundin Katja, klein, zierlich, mit einem dunklen Lockenkopf und goß genüßlich den Rest des Wassers über mir aus.

"Steh’ auf du Faulpelz ! Wir wollen doch heute ins Sunset !" Richtig, das hatte ich ja ganz verges- sen ! Das "Sunset" war eine der Diskotheken unserer Stadt, zwar nicht total in, aber wenigstens fielen die Eltern nicht in Ohnmacht, wenn wir dorthin gingen. Im Sommer herrschte dort Hoch- betrieb, und es liefen wirklich nette Jungs herum. Außerdem hatte Katja beschlossen, daß wir uns dieses Jahr den Mann fürs Leben angeln.

Natürlich hatten wir beide unsere Freunde, aber die waren eben nur Durchschnitt. Ich ging mit Claudio, weil nichts an ihm kompliziert war, und er mich wirklich mochte, und Katja war aus dem gleichen Grund mit Claudios Freund Marc zusammen. Wir unternahmen viel zu viert, und das war mir ganz recht, denn ich wollte nicht unbedingt mit Claudio allein sein.

Wie immer drängten sich im Sunset die Leute, und es war kein Tisch mehr frei. Claudio zog mich gleich nach unten in die kleinste Disko, die total überfüllt war. Im grellen Licht der blinkenden Scheinwerfer sah ich mich nach Katja um, aber die war irgendwo im Gewühl untergetaucht. Die Musik war voll gut, und ich genoß es mich auszutoben. Plötzlich packte mich jemand am Arm. Es waren Katja und Marc. Sie wollten mit uns die Gruppe anhören, die neu vor gestellt werden sollte. Also drängten wir uns die Treppe hinauf. Auch hier war es wahnsinnig eng, und ich konn- te kaum etwas erkennen.

Tosender Beifall empfing den Lead-Sänger der Band "The Monkeys". Nach einer kurzen Vorstel- lung der Bandmitglieder legten sie gleich voll los. Da unser Platz nicht der beste war und der Spezialnebel ein übriges dazu tat, konnte ich nur Umrisse unterscheiden. Doch als ER anfing zu singen, wurde mir ganz anders. Diese Stimme war einfach umwerfend, nicht zu dunkel, aber männlich, dann wider weich und melodisch.

Ohne mich um die schimpfenden Leute zu kümmern, boxte ich mich nach vorn und beim dritten Lied konnte ich ihn endlich sehen. Er war mittelgroß und ein eher südländischer Typ. Sein dichtes schwarzes Haar trug er kurz, nur eine Strähne fiel ihm immer wieder in die Stirn. Seine Klamot- ten waren eher lässig, er trug Jeans und eine Weste, die den Bauch freiließ. Darunter konnte man den braungebrannten, muskulösen Körper nicht nur ahnen, den er besaß.

Die Stimmung war mittlerweile am Kochen, und alles brüllte Zugabe, als die Band zum ende kam. Da schnappte sich mein Traumtyp seine Gitarre und meinte cool: "Und jetzt, Mädels - dieser Song ist nur für euch !" Ich hätte schwören können, daß er mir dabei zugezwinkert hat.

Gefühlvoll sang er den leisen Love-Song, und ich bildete mir ein, daß er dabei an ein blondes Mädchen in Jeans und rot-weißer Bluse dachte.

Als ich endlich aus meinen Träumereien erwachte, bemerkte ich, daß es schon sehr spät war, denn das Sunset leerte sich bereits. Ich hatte beim Zuhören die Zeit total vergessen - dabei mußte ich spätestens um zwölf Uhr zu Hause sein.

Sonst fuhr ich immer mit Claudio auf seinem Roller heim, aber er war nirgends mehr aufzutrei- ben. Verloren stand ich vor dem Sunset und kam mir ziemlich blöd vor. Dieser Typ war sicher viel älter als ich und außerdem liefen ihm die Weiber scharenweise nach. Also war er entweder ein Wüstling, der mit jeder ins Bett stieg oder er würde mich überhaupt nicht bemerken.

Gedankenverloren lief ich auf und ab, da rempelte mich jemand an. Ich verlor den Halt und landete unsanft auf dem Gehsteig. Da hatte wohl einer zu tief ins Glas geschaut.

"Kannst du nicht aufpassen?" empört funkelte ich den Rüpel an und blickte in zwie lachende braune Augen. Es durfte nicht wahr sein. Einmal in seinem armseligen, spießigen Leben hatte man Gelegenheit einen absoluten Traumtypen kennenzulernen, und da saß ich nun auf dem Geh- steig und wußte nicht, was ich sagen sollte. Vor mir stand nämlich der Lead-Sänger von "The Monkeys" und die ganze Truppe beobachtete uns grinsend. Mir wurde heiß und kalt, doch er nahm einfach meine Hand und half mir hoch.

"So ganz allein? - Ein so hübsches Mädchen? Können wir dich ein Stück mitnehmen?"

So saß ich dann also um halb twei Uhr nachts, eingequetscht zwischen vier Jungen auf dem Rücksitz eines kleinen Buses. Der Lead-Sänger J.J. - er hieß eigentlich schlicht Stefan, wie ich eben erfahren hatte, fuhr. Viel zu schnell kamen wir vor unserem Haus an, und ich hatte noch kein einziges Wort mit J.J. geredet. Trotzdem verabschiedete ich mich betont fröhlich von den Jungs, obwohl ich genau wußte, welche Standpauke jetzt folgen würde, denn es war mittlerweile nach zwei.

"Oh das Fräulein Tochter geruhen auch schon nach Hause zu kommen?!?" Wenn mein Vater, sonst ziemlich gelassen, schon so anfing, konnte das ja heiter werden. Auch die Miene meiner Mutter verhieß nichts Gutes. Vergessen waren all die Samstage, an denen ich auf die Minute genau erschienen war, jetzt mußte mir eine gute Ausrede einfallen.

"Naja, Claudio war auf einmal weg und da ..." Shit, wieso kann ich nicht erst nachdenken, bevor ich zu quatschen anfange? Das machte natürlich alles noch viel schlimmer.

"Du bist also nicht mit Claudio heimgekommen?" fragte meine Mutter denn auch prompt und bekam ihren typischen Jetzt-aber-raus-mit-der-Sprache-Blick.

"Naja, da spielte so eine Gruppe- die war echt gut - aber es war so voll und da ... da hab’ ich ..."

"Katja war pünktlich zu Hause!" unterbrach mich meine Mutter.

Das gab mir den Rest. "Dann spioniert doch weiter, vielleicht erfahrt ihr dann mit wem ich ge- kommen bin!" Damit drehte ich mich um und knallte meine Zimmertür zu.

In dieser Nacht träumte ich natürlich von J.J. Er hatte sich mit mir verabredet, über uns funkelten die Sterne ... "Silvia aufstehen!" Mein Vater trommelte gegen die Tür. Schlagartig war ich wach und der gestrige Abend bekam einen bitteren Nachgeschmack.

Mein Gefühl täuscht mich meistens, aber diesmal war es leider anders. Das Ergebnis meiner Ver- spätung hieß vier Wochen Ausgehverbot. Außerdem drohten meine Eltern, mich jedesmal abzuholen, wenn ich nicht endlich damit rausrücken würde, wer mich nach Hause gebracht hatte. Sie hätten schließlich die Aufsichtspflicht und so weiter.

Vor lauter Sturheit weigerte ich mich mit zu Tante Gertrud zu kommen. "Tante Gertrud ist eine feine alte Dame, die vie lfür uns getan hat, und du warst schon immer ihr Liebling."

Soweit die Meinung meiner Eltern. Für mich war sie ein sabberndes Ungeheuer, das nach Motten- kugeln roch und mich noch einmal zu Tode drücken würde. Außerdem brannte ich darauf, Katja anrufen zu können, und da paßte die Abwesenheit meiner Eltern natürlich sehr gut. Mein größerer Bruder war auch außer Haus, was die Sache wirklich perfekt machte, denn er hielt so- wieso immer zu meinen Eltern.

Als sie wg waren, spielte ich eine Zeitlang mit dem Gedanken, einfach abzuhauen und damit das Verbot zu umgehen. Ich wollte diesen Spießern zeigen, daß sie mich nicht einsperren konnten, aber das würde meine miese Lage bestimmt nicht verbessern. Im Gegenteil, ich könnte mich gleich im Internat - oder noch besser im Kloster - anmelden.

Deshalb hatte ich ihnen auch nicht von J.J. erzählt. Waren sie ja schon bei Claudio sehr mißtrau-isch, ob er der Richtige für ihr Töchterchen sei und nur weil der absolut langweilig war, wurde er als unbedenklich eingestuft. J.J. dagegen, ein Musiker bzw. Sänger in einer umherziehenden Band mit umwerfendem Aussehen - höchste Alarmbereitschaft. Vermutlich würden sie mich mit Privatdetektiven überwachen, wenn ich je mit ihm ausgehen sollte. Ich wußte, daß ich mich selbst belog, denn meine Eltern machten sich wirklich Sorgen um mich und erlaubten mir sonst ziemlich viel. Aber das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnten, war eben, daß ihre Tochter an den Falschen geriet.

Ich rief also Katja an, die sich ein wenig schuldig an dem Schlamassel fühlte, aber schließlich hatte sie ja nicht ahnen können, daß ich ohne Claudio alle Jungen aufreißen mußte, die mir über den Weg liefen, wie sie sich ausdrückte. Obwohl sie meine Begeisterung für J.J. absolut nicht teilte, versprach sie mir zu helfen. Nach diesem Telefonat fühlte ich mich ziemlich überdreht und verbrachte die restliche Zeit mit sinnlosen Beschäftigungen.

Ich räumte mein Zimmerauf - er könnte ja schließlich vorbeikommen - mit dem Erfolg, daß es noch chaotischer aussah als vorher. Unter all dem Gerümpel hatte ich nämlich einne süßen Affen gefunden, den ich sofort zu meinem Glücksbringer erklärte, weil mich sein Gesichtsausdruck an J.J. erinnerte. Meine Mutter war über den Verhau dementsprechend entsetzt, als sie einen kurzen Blick in mein Zimmer warf.

Während der nächsten Tage legte sich meine Verrücktheit keineswegs, wie wohl alle gehofft hat-ten - auch Katja. Sie verstand mich überhaupt nicht mehr und obwohl sie mir half, möglichst viel über J.J. herauszubekommen, versuchte sie ihn mir auszureden. Die Erkenntnisse waren ja auch nicht gerade erfreulich: J.J. hieß mit richtigem Namen Stefan Heinrich Baumgarten und wohnte mit seinen Bandkumpels in einer verlotterten Bude am Stadtrand. Mit 16 war er aus der Schule geflogen und hatte seinen schockierten Eltern erklärt, er lege keinen Wert auf ihre Fürsorge. Seitdem hatte er sie nicht mehr besucht. Die Cliquuen in denen er verkehrte, waren in der Dro-genszene nicht unbekannt und bei Sauftouren meist vorenweg. Vor zwei Wochen hätte ich noch gesagt, daß ich mit so einem Charakterschwein nie etwas zu tun haben wollte, aber heute ?

Mir war klar, daß ihm die Mädchen nachliefen und vermutlich war ich nicht ganz sein Typ. Bleb also weiterhin die Frage, wie ich überhaupt an ihn rankommen sollte. Wieder kam mir der Zufall zu Hilfe d.h. es hattem ich drei schlaflose Nächte gekostet bis es soweit war. Ich traf eine seiner früheren Freundinnen. Sie war vielleicht zwei Wochen mit ihm gegangen und selbst da hatte er sie schon betrogen. Mit einem Wort, sie riet ir ab, mich näher mit ihm einzulassen. J.J. wäre im Grunde nicht schlecht, aber bei allem was er täte, dächte er nur an sich und von echter Liebe hätte er keine Ahnung.

Eine niederschmetternde Aussage, die ich einfach verdrängte. J.J. hatte sie sitzengelassen - klar, daß sie sich jetzt rächte. Trotzdem war ich dankbar, denn sie hatte mir wertvolle Tips gegeben. Mein Haar zierten bald einige blaue Strähnen, die jeans bekamen Löcher und ohne Make-up ging ich nie mehr aus dem Haus. Meine Eltern nahmen diese Veränderungen relativ gelassen auf, ich mußte nur alles von meinem Taschengeld bezahlen, was auf die Dauer ziemlich teuer wurde.

Nach vier Wochen hoben sie auch das Ausgehverbot auf, ohne weitere Bedingungen zu stellen, wie ich insgeheim befürchtet hatte. Die Sache mit Claudio dagegen war aus, und es tat doch weh, obwohl ich nie wirklich etwas von ihm gewollt hatte.

Wieder einmal einen Fünfer im Gepäck, verließ ich die Schule und da stand ER, mitten auf dem Schulhof, einfach so. Ich war total verlegen und brachte kaum ein Wort über die Lippen. J.J. war ganz locker und lud mich zu einer Spazierfahrt auf seinem Motorrad ein. Alles kam mir wie ein Traum vor. Ich saß hinter ihm, seine Fahrweise war sicher, und ich spürte durch die Lederjacke die Bewegungen seines Körpers. Er roch gut, nach Rasierwasser oder so.

Wir fuhren raus zum Wehr, baden war dort streng verboten und deshalb machte es noch viel mehr Spaß. Natürlich schhleppte ich meinen Badeanzug nicht mit in die Schule und so mußte mir die Freundin seines Bandkumpels ihren Bikini leihen. Eigentlich war ich ganz froh darüber, denn so etwas Scharfes befand sich bei meiner Garderobe nicht.

Während die Jungen ihren Mut bewiesen, indem sie sich möglichst nah an das Wehr treiben ließen, aalten wir Mädchen uns in der Sonne. Tropfnaß, wie er war, legte sich J.J. neben mich und nach einer Weile bekam ich meinen ersten richtigen Kuß. Plötzlich hatte ich das Gefühl, die ganze Welt liege mir zu Füßen. Ich hatte ihn erobert - ihn, den aufregendsten Jungen der Welt !!!

Meinen Eltern erzählte ich nur das Nötigste und sie akzeptierten es, weil sie spürten, daß sie mit Verboten nichts erreichen würden. Die nächsten Wochen verbrachte ich in einem Hochgefühl das sich schwer beschreiben läßt. Die Sommerferien rückten unaufhaltsam näher, der ganze Schul-betrieb interessierte mich sowieso nicht mehr, und ich traf J.J. fast jeden Tag. Wir gingen ins Kino, ich sah bei den Bandproben zu und begeleitete sie am Wochenende zu ihren Auftritten. Die anderen Bandmitglieder nahmen mich sofort in ihren Kreis auf und gaben mir das Gefühl dazu- zugehören.

Überhaupt waren wilde, verrückte Sachen an der Tagesordnung: Wir trafen uns in einer still-gelegten Fabrik, weil wir dort die Musik voll Power laufen lassen konnten. Wir pöbelten alte Leute auf der Straße an, bespritzten Fußgänger, wenn wir mit dem Motorrad durch die Pfützen fuhre ... Es war eine herrliche Zeit, und ich fühlte ich immer mehr wie James Dean, der große Rebell von Hollywood. Mit Katja und den anderen aus meiner Klasse redete ich kaum noch, ich fand sie einfach langweilig und spießig.

Mein Höhenflug endete jäh, als meine Eltern einen Brief des Direktors erhielten, weil ich zuoft die Schule geschwänzt hatte. Sie machten mir klar, daß sie mein Verhalten bis jetzt toleriert hätten, aber die Schule - wenigstens dieses Jahr - müßte ich schon beenden. Ich versprach, nicht mehr zu schwänzen, denn ich verstand ihre Bedenken. J.J. hingegen sah nicht ein, daß ich mich von meinen Eltern so unterdrücken ließ, wie er es nannte. Doch diesmal war ich nicht gewillt nachzugeben, denn mein Traumberuf war nun einmal Arzt, und dafür brauchte ich wohl oder übel das Abi.

Nach unserem ersten richtigen Streit - sonst hatte ich immer rechtzeitig nachgegeben - herrschte erst einmal Sendepause. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, ich fuhr zu J.J.’s Bude. Es war Freitag nach der Schule, grau und verregnet, und dabei war Sommer. Der Schlagzeuger öffnete die Tür und war nicht sehr erbaut, als er mich erkannte: "Was willst du denn noch hier ?" Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. "Willst du mich nicht vielleicht erst mal reinlassen ?"

"Wozu denn, wir brauchen hier keine heulenden Girls, die uns eine Szene machen !"

Im Hintergrund hörte ich ein Mädchen lachen und - ja kein Zweifel - es war J.J., der da sprach. Plötzlich begriff ich, was meine Eltern, Katja, sie alle mir sagen wollten: Für ihn hatte ich mich total verändert, hatte mich selbst aufgegeben, hatte alle vor den Kopf gestoßen, die mir bis dahin wichtig waren, und als ich mich einmal traute, ihm zu widersprechen, ließ er mich fallen wie eine heiße Kartoffel. Von den anderen aus der Clique hatte ich auch nichts zu erwarten, das wurde mir ebenfalls klar, ich hatte nur solange etwas gegolten, wie ich mit J.J., dem King, zusammen war. Für ihn war ich out, also auch für sie.

"Danke, ich habe verstanden", murmelte ich und stieg langsam die Treppe hinunter. Um mich drehte sich alles, und Tränen liefen mir die Wangen hinunter. Auf der Straße begann ich zu lau-fen, ich rannte bis ich nicht mehr konnte - ziellos durch die Stadt. Schließlich setzte ich mich auf eine Parkbank. Regentropfen flossen an mir herab und vermischten sich mit meinen Tränen. In mir war alles leer und grau, nichts hatte mehr einen Sinn.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß und in den Regen starrte, eine viertelstunde, eine halbe ? Es war mir auch völlig gleichgültigt, ich wollte nur nicht nach Hause. Sie hatten recht gehabt, wie so oft. Ich stellte mir meinen Bruder vor, der mich sowieso für übergeschnappt hielt oder meine Eltern mit ihrem typischen "Ich habe es dir ja gleich gesagt"

Plötzlich bemerkte icheinen Vogel. Es war ein kleiner Spatz, der mich mit schief gelegtem Kopf betrachtete. Kläglich plusterte er sein Gefieder auf, das völlig durchnäßt war und seinen mageren Körper nicht mehr wärmte. Er mußte noch sehr jung sein, vermutlich erst dieses Frühjahr ausge-schlüpft, und jetzt saß er hier: klein, armselig, stumpfsinnig, genau wie ich. Behutsam nahm ich ihn auf die Hand. Er ließ alles mit sich geschehen, beäugte mich nur mißtrauisch mit seinen schwarzen Knopfaugen. "Armer, kleiner Kerl ! Ich werde dich Tschilp nennen !" beschloß ich, und es fiel mir nicht mehr schwer nach Hause zu gehen. Schließlich brauchte Tschilp einen Platz zum Aufwärmen.

"Um Gottes Willen, Kind, wie siehst du denn aus ?" entsetzt schlug meine Mutter die Hände über dem Kopf zusammen. Sie steckte mich sofort in die Badewanne und dann gleich ins Bett. Tschilp machte es sich in einem ausgepolsterten Karton bequem.

In den nächsten Tagen war ich total am Boden und ließ keinen an mich ran. Natürlich wußten alle, was passiert war, und es wurde hinter meinem Rücken viel getuschelt. Nur Tschilp konnte mir manchmal ein kleines Lächeln entlocken, wenn er fröhlich piepsend durchs Zimmer flog. Eigentlich hätte ich ihn längst freilassen müssen, aber er war ein unentbehrlicher Trost für mich geworden. Eines Tages war er dennoch verschwunden, denn mein Bruder hatte das Fenster offen- gelassen.

Das Wetter wurde wieder schön, die Sonne strahlte vom Himmel, und mir war immer noch alles egal - sollte es doch regnen, was machte das schon. Zu meinem größten Erstaunen hatte ich die zehnte Klasse geschafft, wenn auch mit Ach und Krach. Ob ich mich darüber freute ? Na ja, ein bißchen schon. Katja wurde meine miese Stimmung langsam zuviel und als sie hörte, daß ich meinen Ferienjob im Krankenhaus nicht antreten wollte, redete sie mir ernsthaft ins Gewissen: "Mensch, Silvie, reiß’ dich doch zusammen ! Die Sache ist schlimm, ja gut, aber kein Grund sich so hängenzulassen. Glaubst du, daß der deswegen ein schlechtes Gewissen hat, weil es dir dreckig geht ? Im Gegenteil, der lacht d’rüber, daß jemand so verknallt sein konnte. Wenn er dir wieder über den Weg läuft und dich einmal anschaut, geht dann alles von vorne los ?" Was ver-stand Katja denn davon ? Aber irgendwie hatte sie auch recht, das mußte ich zugeben.

Der Job im Krankenhaus tat mir wirklich sehr gut. Ich durfte zwar nur Hilfsarbeiten machen , also Essen austeilen, Fieber messen und so, aber gerade viele ältere Leute wareb dankbar für ein wenig Unterhaltung. Besonders angetan hatte es mir die Kinderstation, und auch nach Feierabend ver- brachte ich viel Zeit mit den kleinen Patienten. Ihre Naivität und ihre Anhänglichkeit lehrten mich wieder zu lachen, und ich gewann einen Teil meines Selbstvertrauens zurück.

Die meisten meiner alten Freunde, auch Katja, waren inzwischen im Urlaub, mein Bruder fuhr mit Freunden in die Toskana, und meine Eltern wollten entfernte Verwandte in der Schweiz be-suchen. Ich bat, daheim bleiben zu dürfen, weil mir meine Arbeit so gut gefiel, und der Arzt ge- sagt hatte, ich könnte ruhig noch länger kommen. Allerdings würde ich nicht mehr soviel ver-dienen, aber das machtemi r nichts aus. Schließlich gaben meine Eltern nach, denn eine warme Mahlzeit bekam ich ja im Krankenhaus.

Eigentlich wollte ich an diesem Donnerstag früher nach Hause gehen, denn ich wollte nach der Abreise meiner Eltern das Alleinsein so richtig genießen. Doch alles kam ganz anders. Ein Notfall wure eingeliefert - Motorradunfall, der 19-jährige Fahrzeuglenker schwer verletzt. Normalerweise hatte ich mit schweren Fällen nichts zu tun, aber jetzt in den Ferien war der herrschende Personal- mangel noch akuter als sonst. Kurzum ich entschloß mich ausnahmsweise länger dazubleiben. Hektik brach aus, schnell wurde ein OP-Team zusammengestellt - Notoperation.

Nach zwei weiteren Stunden war ich total erledigt. Die allgemeine Nervosität steckte an, und ich wollte so schnell wie möglich nach Hause. Als ich gerade auf den Flur trat, bemerkte ich zwei Polizisten, die eine fassungslos schluchzende Frau wegführten: "Mein Junge ! Ich will zu meinem Sohn !" schrie sie immer wieder. "Kommen Sie, Frau Baumgarten, beruhigen Sie sich. Wir brin-gen Sie jetzt nach Hause." erwiderte ein Polizist sehr freundlich, dann bogen sie um die Ecke.

Baumgarten - 19-jähriger Motorradfahrer ? Mein Herz schien kurz auszusetzen, mühsam hielt ich die Augen offen.

"Silvia, ist alles in Ordnung ? Du siehst so blaß aus", besorgt blickte mich die Oberschwester an.

"Ich - äh - nein, nein, ich meine mir geht es gut. Aber, also, die Frau vorhin ..." stammelte ich.

"Ja, ja, das war die Mutter von dem verunglückten Motorradfahrer. Ziemlich schlimme Sache. Wird wohl wieder zuschnell gefahren sein. Diese jungen Leute kennen ja keine Grenzen mehr !"

"Wissen Sie zufällig wie der Junge heißt ?" erkundigte ich mich vorsichtig. "Der Junge ? Mmh, Steffen oder so ähnlich. Warum, kennst Du ihn ?" "Nein, nein, nur so", murmelte ich und verabschiedete mich hastig. Ich hatte mich also nicht getäuscht, es war wirklich J.J., der gerade im OP wieder zusammnegeflickt wurde.

Zu Hause stellte ich den Kassettenrekorder an und warf mich aufs Bett. Was bedeutete es mir, daß J.J. in Lebensgefahr schwebte ? Wenn er starb ? Wenn er ein Krüppel bleiben würde ? Oder wenn ich ihn täglich im Krankenhaus sehen -durfte - mußte ? Ich hatte gehofft, ihn vergessen zu können, aber mir wurde klar, daß es unmöglich war. Und gerade jetzt war keiner da, der mir raten könnte. Ich war ganz auf mich allein gestellt. Schließlich nahm ich mir vor, J.J. bzw. Stefan als ganz normalen Patiente zu behandeln und die Vergangebheit einfach zu ignorieren.

Daß das gar nicht so einfach war, merkte ich vier Tage später, als er aus der Intensivstation kam und in Zimmer 12 verlegt wurde. Dort lag außer ihm noch eine nette alte Dame, mit der ich mich sehr oft unterhalten hatte, was die Situation zusätzlich verkomplizierte.

Als ich zum ersten Mal das Zimmer betrat, schlief er. Die alte Dame, sie hieß Frau Lehmann, be- grüßte mich freundlich wie immer und blickte dann mitleidig auf J.J. "Den hat es ganz schön er- wischt", flüsterte sie mir verschwörerisch zu. Das Tablett in meiner Hand zitterte bedenklich, und schnell brachte ich Frau Lehmann ihr Mittagessen ans Bett. Wenn J.J. nicht bald aufwachte, würde ich ihn wohl wecken müssen. Mach’ jetzt bloß deine Augen auf, befahl ich ihm in Gedanken, aber es half nichts.

Vorsdichtig ging ich zu ihm hinüber. Er sah richtig friedlich aus, wenn er schlief. Um seinen kopf war ein Verband gewickelt, die rechte Gesichtshälfte zierten Schrammen und bläulich-rote Flecken. Sein rechter Arm war bis zum Ellenbogen eingegipst, und sein Oberkörper steckte in einem Korsett. Das linke Bein war geschient worden, ansonsten fehlte ihm nicht viel, keine inne-ren Verletzungen bloß eine Gehirnerschütterung.

Wie weckte man einen Kranken ? Frau Lehmann bemerkte meine Unsicherheit und half mir. Da schlug J.J. die Augen auf und blickte mich desorientiert und fassungslos an. "Sie sind Stefan Baumgarten ?" wider Erwarten traf ich den freundlich distanzierten Schwesternton sofort. J.J. starrte mich immer noch an, sichtlich verwirrt nickte er dann, verzog aber gleich darauf schmerzvoll das Gesicht. Eilig drehte ich mich um und holte sein Essen. Es tat richtig gut, ihn einmal so klein zu sehen Vorsicht, Silvia, Vorsicht, ermahnte ich mich selbst.

Ich schaffte es tatsächlich in den nächsten Tagen meine Rolle durchzuhalten und kein persönliches Wort mit J.J. zu reden. Zu meinem Erstaunen mußte ich feststellen, daß ihn kaum einer seiner Kumpels besuchte, nur seine Mutter kam fast jeden Tag.

Als sein Kopfverband wegkam, hätte ich fast losgelacht: J.J. war ein Glatzkopf, denn sie hatten ihm wegen mehrerer Platzwunden und Schnitte die Haare abrasiert. Sein Gesicht, als er sich im Spiegel betrachtete, war unbeschreiblich.

Wieder einmal wollte ich nach Feierabend kurz bei Frau Lehmann vorbeischauen, um ein bißchen mit ihr zu plaudern, aber ihr Bett war leer. Verstohlen blickte ich zu J.J. hinüber. Ob er wohl schlief ? "Schwester Silvia, schnell" tönte es plötzlich aus dem Bett. Mit einem Satz war ich bei ihm und knipste das Licht an. "Schade, jetzt ist es nicht mehr so romantisch - oh Entschuldigung - ich meinte dramatisch, mein Herz rast nämlich ..."

Ich hätte mich ohrfeigen können und ihn dazu, so ein gemeiner Kerl, mir so einen Schrecken ein-zujagen. "He, Du hörst mir ja überhaupt nicht zu !" empört richtete sich J.J. im Bett auf. "Ich rede und rede ..." "Entschuldigung Mr. Supersänger, ihre Sklavin hört", erwiderte ich sarkastisch.

"Du Silvia - ach verdammt- schau mich an, okay ? Bitte !?" Nanu, das klang ja gar nicht mehr so selbstsicher. Zögernd wandte ich mich ihm zu. "He meinst du nicht, daß jeder mal Mist baut ?"

"Das nennst Du einmal Mist bauen ? Du wechselst die Mädchen wie Unterhosen, und weil Du jetzt zufällig etwas lädiert aussiehst und keine so große Auswahl hast, besinnst Du Dich auf die kleine Silvia, die Dir damals so schön die Zeit vertrieben hat. - Nein danke !" Meinerseits zimlich heftig sagte ich, was ich von ihm hielt und verließ das Zimmer.

"Silvia ! He Silvie ! Du kannst mich doch nicht so einfach ...!" Wumm ! Die Tür war zu. Und ob ich konnte, jetzt war ich am Drücker und jetzt würde er büßen, büßen für zwei Wochen meines lebens, die ich fast durchgeheult hatte.

Inzwischen waren meine Eltern wieder zurück und wunderten sich über meine Superlaune. So erzählte ich ihnen in meinem Überschwang von einem Patienten, den ich wirklich außerordentlich nett fand. Sie zwinkerten sich verständnisvoll zu, und ich mußte lachen, wenn die wüßten.

Am nächsten Tag wartete ich bis zum Mittagessen, bevor ich Zimmer 12 wieder aufsuchte. Sollte er ruhig noch ein bißchen zappeln. Als ich mich dann endlich entschloß, war sein Bett leer. Ratlos blickte ich auf meinen Blumenstrauß. Spontan wollte ich ihn Frau lehmann verehren, aber die hatte mit einme Blick auf mein Sommerkleid erfaßt, um was es sich handelte. "Dann darf ich also darauf hoffen auch dann noch Besuch von Dir zu bekommen, wenn Du nicht mehr hier arbei-test?" Ich verstand und grinste. Da rückte Frau Lehmann mit ihrem Plan heraus.

Wenig später kehrte J.J. ins zimmer zurück. Er schien nicht gerade in bester Stimmung zu sein, das konnte ich beurteilen, denn ich saß auf einem Hocker hinter dem Vorhang, der das Wasch- becken abteilte.

"Ach junger Mann", ließ sich Frau Lehmann vernehmen, "Schwester Silvia war hier. Heute ist doch ihr letzter Arbeitstag. Sie läßt schön grüßen." "Ist sie schon - ich meine, sonst hat sie nichts - äh - Danke !" Er klang ziemlich enttäuscht, Vorsichtig schob ich den Vorhang ein Stück zurück. J.J. löste Kreuzworträtsel d.h. er stierte auf die Zeitung. Anscheinend saß er etwas unbequem, denn er hantierte an seinem Bett herum.

Frau Lehmann verließ das Zimmer, und ich überlegte gerade, wie ich am wirkungsvollsten in Er- scheinung treten könnte. Plötzlich bekam J.J. das Übergewicht und fiel kopfüber aus dem Bett, und da das geschiente Bein irgendwo hängengeblieben war, hing er also verdreht zwischen Bett und Boden. Das sah so komisch aus, daß ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Lauthals fing ich an zu lachen und als ich sein verdutztes Gesicht sah, war es ganz aus. Ich krümmte mich vor Lachen. Das war leider zuviel für den altersschwachen Hocker und so landete ich ebenfalls unsanft auf dem Hoseboden.

Die Krankenschwester, aufgeschreckt durch den Lärm, kam ins Zimmer und fand zwei Verrückte lachend auf dem Boden sitzen, denn J.J. hatte es geschafft, sich zu entwirren. "Viel Spaß dann noch weiterhin !" bemerkte sie trocken und verließ kopfschüttelnd den Raum.

So nahmen wir also einne zweiten Anlauf, und ich habe es nie bereut. Als J.J. aus dem Krankenhaus entlassen wurde, stellte ich ihn meinen Eltern vor. Sie fanden ihn ganz in Ordnung, denn J.J. gab sich wirklich alle Mühe, vorbildliche Manieren an den Tag zu legen. Beim abschied meinte mein vater noch: "Siehst Du Silvie, das ist doch ein ganz anderer Typ, als dieser verrückte Sänger !" Ich blickte zu J.J. hinüber, er zwinkerte mir zu, und wir fingen beide an zu lachen.

 

 

 

The End